Demokratie braucht dich
von Pastor Dr. Joachim Diestelkamp Loccum und Wiedensahl
„Auf einer kleinen Wiese bei einer belebten Kreuzung stand das Denkmal, das an den 17. Juni 1953 erinnerte. Zigmal bin ich in Lüneburg dort vorbeigefahren, und ich habe immer kurz hinübergeschaut. Sicherlich hätte ich dieses Denkmal nicht wahrgenommen, wenn mich mein Schwiegervater nicht eindringlich darauf hingewiesen hätte, auf die Geschichte, für die es steht: Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR zeigte, dass Demokratie, Rechtstaat, Meinungs- und Pressefreiheit ein teures Gut sind, in autoritären Regimen werden sie mit Füßen getreten. Der Aufstand wurde von sowjetischen Besatzungstruppen und Polizeikräften der DDR niedergeschlagen. Mehr als 15.000 Bürger wurden inhaftiert, Tausende wurden zu oft mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Heute vor 70 Jahren war das. In der Bundesrepublik wurde dieser Tag zum Tag der Deutschen Einheit erklärt.
Einer der Verurteilten war der Schwager meines Schwiegervaters. Er wurde im „Gelben Elend“, dem berüchtigten Gefängnis Bautzen I, eingebuchtet. Meinem Schwiegervater gelang es, seinen Schwager nach sieben Jahren Haft über den Rechtsanwalt Vogel aus der DDR freizukaufen und in die Bundesrepublik zu holen. Ihm gegenüber hat er von den schrecklichen Haftbedingungen und von der Folter erzählt.
Vor 20 Jahren habe ich diesen Onkel meiner Frau gefragt, ob er bei einer Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag über den Aufstand und über die Haft erzählen würde. Er hat abgelehnt. Aus Angst. Als man ihn Anfang der 60er Jahre freiließ, musste er schwören, zu schweigen. Wer redet, bezahlt mit dem Laben, haben sie ihm eingebläut. Davon war er auch im Jahr 2003 noch überzeugt.
Unser Onkel hat seine traumatischen Erlebnisse mit ins Grab genommen. Wie tausende andere Inhaftierte des Volksaufstands. Wie kann man solch ein Trauma bewältigen, ohne zu reden? Viele Menschen haben keine andere Wahl. Was kann da helfen? Vielen hat und wird das Beten helfen. Gott hat ein offenes Ohr. Jesus hat ein gutes Wort: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: ich will euch erquicken“, Matthäus 11,28. So der Bibelspruch für diese Woche. Beten kann guttun. Und manchmal schenkt Beten den Mut, sich jemandem anzuvertrauen, aller Angst zum Trotz.
Wir haben seit gut 30 Jahren einen neuen Tag der Deutschen Einheit, den 3. Oktober. Wir sollten darüber den 17. Juni 1953 nicht vergessen. Sonst könnten seine Mahnung für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat verstummen.
Ihr
Joachim Diestelkamp, P.